04.05.23 bis 04.06.23
Alle Veranstaltungen der Reihe sind für alle offen und ohne Eintritt
In den letzten Jahrzehnten haben sich gesellschaftliche Wahrnehmungsmuster sozialer Ungleichheiten zunehmend verändert und unter anderem zu einem Zuwachs verschiedenster Identitätspolitiken geführt, durch die die gesellschaftliche Diskriminierung marginalisierter Gruppen stärker fokussiert und kollektiv um soziale Anerkennung gestritten werden soll.
Insbesondere mit dem Erstarken neurechter Bewegungen und ihrer ethnopluralistischen Ideologie, in der der Verlust einer vermeintlichen nationalen und kulturellen Identität befürchtet wird, gerieten identitätspolitische Konzepte und Praktiken immer stärker in die Kritik. Die Debatten um Identitätspolitik reichen allerdings inzwischen auch in linke Bewegungen und werden hier vor dem Hintergrund autoritärer Ausschlusspraktiken, einer Angleichung an neoliberale Herrschaftsverhältnisse und einer Partikularisierung sozialer Bewegungen kontrovers geführt.
Im Rahmen dieser Veranstaltungsreihe sollen die gesellschaftlichen Ursachen des Bedeutungszuwachses von Identität untersucht und ein kritischer Blick auf die Theorie und Praxis von Bewegungen geworfen werden, die sich affirmativ auf sie beziehen. Der Fokus liegt dabei auf einer selbstkritischen Beschäftigung mit linken Identitätspolitiken, die aufgrund einer polemisierten Debatte entweder vermieden oder dogmatisch geführt wird.
Anstelle einer Echauffierung über Teile der politischen Linken soll eine produktive Debatte entstehen, aus der inhaltlich gestärkt hervorgegangen werden kann.
Im ersten Teil der Veranstaltungsreihe wird kritisch in das Konstrukt Identität eingeführt. Darauf folgt eine Auseinandersetzung mit gegenwärtigen geschlechtlichen und ethnischen Identitätspolitiken, bzw. den Leerstellen und Fallstricken zentraler politischer Wahrnehmungs- und Argumentationsmuster. Auch autoritäre Tendenzen innerhalb identitätspolitischer Bewegungen sollen hier beleuchtet und gesellschaftlich eingeordnet werden.
Ein Überblick über die Veranstaltungen findet sich hier. Kommt vorbei – Let´s reunite!
Die Sehnsucht nach Identität. Zur Sozialpsychologie eines affektiv hochbesetzten Konstrukts
04.05. 19Uhr, Pavillon
Vortrag
Der Begriff „Identität“ ist ein inflationär verbreitetes Modewort geworden. Sein Reiz liegt dabei in seiner Unbestimmtheit, die ihn letztlich gegen alles, was als nicht- identisch gilt einsetzbar macht. Vor allem in der Beschwörung einer kollektiven, also einer nationalen, kulturellen oder einer geschlechtlichen Identität wird diese Gefahr deutlich. Der Identitätsbegriff suggeriert dabei das Vorhandensein klarer Differenzen und eine wesensmäßige Einheit mit sich selbst beziehungsweise mit der eigenen Gruppe. Die ersehnte innerer Homogenität, Reinheit und Widerspruchsfreiheit kann aber nur durch die Ausgrenzung und Verfolgung derjenigen erreicht werden, die längst als nicht dazugehörig definiert und gerade deshalb als bedrohlich empfunden werden. Dabei wird verkannt, dass „innen“ und „außen“, „Eigenes“ und „Nicht-Eigenes“ je nach ideologischen Vorgaben konstruiert werden. Das öffnet Tür und Tor für einfache Welterklärungsmuster und demagogische Heilsversprechungen. Der Vortrag wird diesen Fallstricken des Identitäts-Begriffs aus einer sozialpsychologischen Perspektive nachgehen.
Prof. Dr. Rolf Pohl war bis 2017 Hochschullehrer für Sozialpsychologie am Institut für Soziologie an der Leibniz Universität Hannover. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören im Bereich der Politischen Psychologie die Themen NS-Täter, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit sowie im Bereich der Geschlechterforschung die Themen Sexismus, Männlichkeit, sexuelle Gewalt und männliche Adoleszenz.
Identität als Reale Fiktion
Vortrag
10.05. 19Uhr, Raum 1502.013 (Königsworther Platz 1, 30167 Hannover)
Die Erfahrung gesellschaftlicher Desintegration bringt die Sinnfragen, „Wer sind wir? Wo kommen wir her? Wer ist schuld?“ heute in einer radikaleren Form in das Alltagsbewusstsein zurück. Die Ausgangsfrage „Wer sind wir?“ sei zwar leicht zu stellen, meint Claussen (1994), aber schwer zu beantworten, wenn man sich mit der Sinnplombe „Identität“ nicht zufriedengäbe.
Dieser Vortrag beleuchtet die Bedeutsamkeit „ethnischer Identitäten“ als normative politische Kategorie, reflektiert aber zugleich ihre Unbrauchbarkeit als analytische Kategorie, die komplexe Gemengelagen von Anerkennungskämpfen und Vergemeinschaftungsprozessen nicht zu entschlüsseln vermag.
Am Beispiel der Entstehung von „,Ethnizität“ wird in diesem Beitrag gezeigt, dass es sich beim wirkmächtigen Stichwort „Identität“ um reale Fiktionen handelt: sie brauchen keine empirische Basis, entbehren analytischen Gehalt, basieren auf subjektivem Glauben, haben jedoch eine objektive Wirkungsmacht.
PD Dr. habil. Nina Clara Tiesler ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der Leibniz Universität Hannover und affilierte Forscherin am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Lissabon. Sie promovierte über Identitätspolitiken von Muslim:innen in Europa und entwickelte in ihrer Habilitationsschrift die analytische Prozesskategorie der Ethnoheterogenese. Am ISH unterrichtet sie Soziologische Theorie.
Diversität der Ausbeutung – Zur Kritik des herrschenden Antirassismus
Buchvorstellung
12.05., 19 Uhr, Kulturzentrum Faust – Warenannahme
In Deutschland wird von Antidiskriminierungsstellen bis zur radikalen Linken ein liberaler Rassismusbegriff vertreten, der vor allem auf Repräsentation, Inklusion und Diversität setzt. Wie Klasse und Rasse zusammenhängen, wird aktuell so gut
wie nicht diskutiert. Der Sammelband „Die Diversität der Ausbeutung“ will diesen Fundus heben, indem historische und aktuelle Diskussionen aus dem englischsprachigen Raum rezipiert sowie aus deutschsprachigen marxistischen Wissensarchiven aktualisiert werden. Gleichzeitig bietet das Buch eine politische Intervention in die aktuelle liberale und identitätspolitische Debatte um strukturellen und institutionellen Rassismus – ob auf dem Arbeitsmarkt oder bei der Polizei – und präsentiert einen marxistischen Antirassismus in Theorie und Praxis.
Bafta Sarbo ist Sozialwissenschaftlerin. Sie lebt in Berlin und beschäftigt sich mit marxistischer Gesellschaftskritik, (Anti-)Rassismus, Migration und Polizeigewalt. Politisch ist sie unter anderem aktiv im Vorstand der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland. Bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung gibt sie Kurse zum Marxschen Kapital.
Critical Whiteness – Entsolidarisierungen im Antirassismus?
Vortrag
15.05., 19Uhr, UJZKorn
Der Vortrag führt ein in das Konzept von Critical Whiteness und problematisiert die damit verbundene Identitätspolitik im Feld des Antirassismus. Er möchte zeigen, dass das dominante US-Konzept der weißen Vorherrschaft große Teile der Geschichte des europäischen und insbesondere des deutschen Rassismus übersieht und als Theorieimport, der in Deutschland allmählich hegemonial wird, diese Geschichte sogar unsichtbar macht. Dabei wird argumentiert, dass Rassismus kein identitäres Projekt ist, auch wenn er Identitäten produziert, sondern ein Instrument zur ungerechten Verteilung von Rechten und Ressourcen. Es geht nicht so sehr um Zugehörigkeiten und entsprechende Privilegien, sondern um die Produktion von Entrechtung, die zu diesen Verhältnissen führt. In den Identitätspolitiken der letzten Jahre werden zunehmend autoritäre und von Widersprüchen befreite Formen der Politik sichtbar, deren Konsequenzen für ein solidarisches Handeln gemeinsam diskutiert werden sollen.
Massimo Perinelli ist Historiker, Autor und Publizist, Podcaster und Aktivist in postmigrantischen Initiativen. Seit 2016 arbeitet er als Referent für Migration bei der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Berlin. Von 2001 bis 2015 hat er an der Universität zu Köln zur Geschichte des Films, zu Körper- und Sexualitätsgeschichte und zu US- Geschichte gelehrt und geforscht. Er ist langjähriges Mitglied von Kanak Attak, Mitbegründer der Kölner Initiative „Keupstraße ist überall“ und hat das Tribunal
„NSU-Komplex auflösen“ mitinitiiert und mitorganisiert. 2019 hat er den Interviewband „Die Macht der Migration“ (Unrast) publiziert und 2020 gemeinsam mit Lydia Lierke den Band „Erinnern stören“ (Verbrecher) herausgegeben.
Die Frauenfrage als Teil der allgemeinen sozialen Frage – von Identitäts- und Klassenpolitik in linker Bewegungsgeschichte
Vortrag
17.05., 19Uhr, UJZKorn
Die Debatte um den Primat von Identität und Klasse – sei es politisch oder auf theoretischer Ebene – ist äußerst polarisiert. Es ist daher hilfreich, genauer hinzusehen: Woher kommt Identitätspolitik und was war damit gemeint? Interessierte sich die Arbeiter*innenbewegung nur für geschlechtslose, also männliche (weiße)
Industriearbeiter? Und ist eine Synthese im Sinne einer „intersektionalen“ Klassenpolitik nötig oder waren Ausbeutung und Unterdrückung ohnehin nie zu trennen?
In einem Streifzug durch die letzten 150 Jahre schauen wir uns an, wie ein marxistischer Identitätsbegriff aussehen könnte und was das für Emanzipation bedeutet. Mit Clara Zetkin über „das Erwachen der Individualität“ hin zum Sozialismus beim Combahee River Collective – es zeigt sich, dass linke Geschichte bei weitem nicht so stereotyp ist, wie in der Debatte um Identitäts- vs. Klassenpolitik bisweilen behauptet.
Janette Otterstein ist Sozialwissenschaftlerin und promoviert an der Friedrich-Schiller- Universität Jena zum Verhältnis von Kapitalismus, Rassismus und Sexismus in marxistischer Theorie und Praxis. Sie lehrt an Hochschulen zu Marxismus und Feminismus.
Materialistischer Feminismus in der Bredouille
Vortrag
21.05., 16 Uhr, Freizeitheim Linden
Materialistischer Feminismus galt in den letzten Jahren als Gegenstück und Kritikfolie zu queerfeministischen Ansätzen. Dem einseitigen Beharren auf Identitätspolitik wurde die Kritik am neoliberalen Konzept von Identität und am kapitalistischen Patriarchat entgegengehalten, das unermüdlich Biologie vergesellschaftet – zum weitaus größeren Nachteil derer, die in dieser Gesellschaft zu Frauen werden.
Heute wird der identitätspolitische Feminismus vermehrt von Radikalfeministinnen kritisiert. Sie behaupten, endlich wieder Realität, und zwar in Form von Geschlechtsorganen, in die Debatte um Frauen und Männer zu tragen. Wenn Materialismus als Begründung dafür herangezogen wird, dass Frauen keinen Penis haben könnten, muss die Frage, was materialistischen Feminismus ausmacht, neu gestellt werden.
Koschka Linkerhand ist feministische Autorin und Referentin. 2018 erschien der Sammelband „Feministisch Streiten“, 2018 und 2021 die Romane „Die Irrfahrten der Anne Bonnie“ und „Ein neuer, ein ganz anderer Ort“, 2022 „Um mein Leben. Ein biografischer Bericht“.
Warum ich nicht mehr über den Islam rede
Lesung
23.05, 19Uhr, Conti-Foyer
Wie es kommt, dass identitätspolitische Positionen die Diskriminierung unterdrückter Minderheiten – etwa im Bereich der Kunst und der Literatur – oft reproduzieren, statt diese zu bekämpfen. Dass identitätspolitische Debatten, die durch ein hohes Maß an Emotionalität und Unerbittlichkeit geprägt sind, die Tendenz haben, abweichende Positionen zu dämonisieren. Dass, darüber hinaus, immer absurdere gesellschaftliche und politische Diskurse immer banalere „Gegen-Diskurse“ produzieren. Und warum er über den Islam nicht mehr redet, diese und andere schwierige Fragen versucht der
Schriftsteller und Psychoanalytiker Sama Maani in seinem neuen Essayband zu beantworten – und scheut dabei auch vor schwierigen Antworten nicht zurück.
Sama Maani wurde in Graz geboren und wuchs in Österreich, Deutschland und im Iran auf. Er studierte Medizin in Wien und Philosophie in Zürich. Nach jahrelanger Tätigkeit als Nervenarzt und Psychoanalytiker arbeitet er heute als Schriftsteller in Wien. Zu seinen Publikationen gehören: „Respektverweigerung. Warum wir fremde Kulturen nicht respektieren sollten. Und die eigene auch nicht“ (Essayband 2015), „Teheran Wunderland“ (Roman 2018) und „Warum ich über den Islam nicht mehr rede“ (Essayband 2022). Sein jüngster Roman „Zizek in Teheran“ (2021) handelt von einer Revolution der Frauen in der halb-fiktiven „Islamischen Republik Teheran“, ausgelöst durch einen geheimnisvollen Text, dessen männliche Leser sich in Frauen verwandeln. In Kooperation mit dem Literarischen Salon Hannover.
Nymphe & Söhne sprechen über Identitätspolitik
Podcastfolge Nymphe & Söhne
25.05.
Wow, wer hätte das gedacht, eine feministische Memeseite kann sprechen! Und das tun Nymphe & Söhne jetzt einmal die Woche mit Abdul Chahin und Jean-Philippe Kindler.
In dieser Folge sprechen die beiden über Dringlichkeit und Tücken von Identitätspolitik. Im Gespräch mit der Community wird es dabei ganz schön kontrovers…
Intersektionalität – Geschichte und Kritik
30.05., 19 Uhr,
Im wissenschaftlichen Diskurs um Diskriminierung aber auch in der Praxis gegenwärtiger, vor allem identitätspolitisch geprägter, Bewegungen spielt Intersektionalität eine wichtige Rolle. Dieser interaktive Vortrag führt ein in die Entstehungsgeschichte der Intersektionalitätstheorie sowie auf dessen Rezeption im deutschsprachigen Raum. Schlagworte wie Standpunkttheorie oder Identitäts- und Verbündetenpolitik werden dabei erläutert und in ihrer politischen Ausgestaltung diskutiert.
Neben der historischen Genese der Intersektionalitätstheorie wird diese auch einer kritischen Untersuchung unterzogen: Was genau wird versucht mit dem Konzept der Intersektionalität auszudrücken? Wo tauchen Probleme auf? Und was bedeutet dies für eine gesellschaftsverändernde politische Praxis?
Als Ausblick wird ein marxistisches Verständnis von Ausbeutung und Unterdrückung umrissen, welches sich zum Ziel setzt eine Bewegung aufzubauen, der es gelingt, »alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (Karl Marx).
Eleonora Roldán Mendívil ist Politikwissenschaftlerin und Herausgeberin des Sammelbandes „Die Diversität der Ausbeutung. Zur Kritik des herrschenden Antirassismus“ (Dietz Verlag Berlin, 2022). Ihre Forschungsschwerpunkte sind die Kritik der Politischen Ökonomie, Rassismus- und Geschlechterforschung. Sie lebt in Berlin.
Antisemitismus und BDS entgegentreten – Widersprüche aushalten
Im Zuge der Ankündigung unser baldig startenden Veranstaltungsreihe wurde von unterschiedlichen Seiten Kritiken an uns herangetragen, die vorrangig zwei Referent:innen, Eleonora Roldán Mendívil sowie Bafta Sarbo, betrifft. Dabei handelt es sich um Antisemitismusvorwürfe, zu denen wir im Folgenden Stellung beziehen und unseren Umgang transparent machen möchten.
Hierbei ist vorwegzunehmen, dass wir weder Roldán Mendívil noch Sarbo für genuine Antisemitinnen halten; wäre dies der Fall, würden wir selbstverständlich von einer Veranstaltung mit ihnen absehen, auch wenn diese, wie in der hiesigen Reihe, das Themenfeld Nahostkonflikt, in dem die kritisierten Positionen lokalisiert sind, nicht einmal streift. Dennoch schätzen wir von Roldán Mendívil getroffene Aussagen und weiteres Auftreten beider Referentinnen stellenweise als antisemitisch, bzw. anschlussfähig für antisemitische Argumentationen ein, weshalb wir dieses kritisieren möchten. Dabei setzen wir auf eine solidarische Kritik, die auf Fehleinschätzungen und diskriminierende Inhalte hinweist, anstatt kategorische Ausschlüsse zu forcieren.
In Interviews bezeichnete Roldán Mendívil Israel als Apartheidstaat, auf einer Demonstration vor sechs Jahren stellte sie lautstark die Forderung einer weiteren Intifada auf, beteiligte sich vorher an einem Musikvideo, dass die gleichen Aussagen beinhaltete und unterstützt darüber hinaus die BDS-Bewegung, auch wenn keine aktive Beteiligung darin vorliegt. Die an ihr kritisierten Positionen werden auch vom BDS immer wieder hervorgebracht und sind deshalb im Folgenden mit einer Kritik der Organisation zusammengeführt. Dabei geht es nicht darum, diese Positionen in Gänze auszudiskutieren, sondern exemplarisch zu kritisieren, um somit auch unsere Hatlung zum BDS zu verdeutlichen. Hier sei erwähnt, dass Sarbo die relativistischen Gleichsetzungen der israelischen Politik zum Apartheidregime nicht teilt oder im Kontext der Demonstrationen bzw. des Musikvideos auftaucht. Die Kritik an ihr bezieht sich vordergründig auf den Kontakt zu BDS-Aktivist:innen sowie die Teilhabe und Unterstützung von Aktionen aus diesem Umfeld, was ebenfalls kritisiert werden muss.
Zum Umgang mit BDS liegt bereits ein veraltetes und stellenweise unausgereiftes Papier des AStA vor, das auch in der hiesigen Diskussion bereits aufgegriffen wurde und in wesentlichen Punkten nach wie vor Richtigkeit besitzt. Bei der Bezeichnung Israels als Apartheidstaat handelt es sich um eine relativistische Gleichstellung, die das System der staatlichen „Rassentrennung“ mit einer demokratischen Gesellschaft auf eine Ebene hebt. Dieser Relativismus hinkt historisch und wird dabei in den Argumentationen immer wieder durch einen vermeintlichen Bezug auf die Antiapartheidkonvention von 1973 zu überspielen versucht; es ginge also gar nicht um das südafrikanische System der staatlichen Ungleichmachung. Beide Bezugspunkte widersprechen jedoch der sozialen und rechtlichen Verfassung Israels, was gerade die letzte Argumentation umso instrumenteller erscheinen lässt (was nicht bedeutet, dass reale Prozesse von Diskriminierung und Segregation innerhalb der Gesellschaft nicht auch wie in anderen Staaten kritisiert werden dürften). Dabei wird bewusst oder unbewusst die Gleichsetzung mit einem rassistischen Regime in Kauf genommen, was nicht nur antisemitischen Agitationen Tür und Tor öffnet, sondern bereits die Frage aufwirft, inwiefern nicht hier bereits ein verdeckter Antisemitismus Teile der Argumentationen hervorbringt (dies steht nicht im Widerspruch dazu, Vergleiche zwischen Staaten und dem Apartheidregime anstellen zu können, doch dürfen diese nicht in indifferenten Gleichsetzungen münden).
Der antisemitische Charakter der Boykottbewegung BDS wurde dabei bereits an vielen Stellen ausführlich erläutert. Ihre Kampagne fußt auf einer einseitigen Kritik Israels, in dessen Folge diesem mehrheitlich (insbesondere von Köpfen der Bewegung) das Existenzrecht abgesprochen wird, weltweit zu einer rassistisch-antisemitischen Kollektivierung von Jüdinnen:Juden beigetragen wird, in dem diese für die Politik des Staates verantwortlich gemacht werden und regelmäßig NS-Relativierungen stattfinden. In diesen Praktiken offenbart sich die kalkulierte Ungenauigkeit in den Zielen und Definitionen von BDS (hier sei insbesondere auf das Grundsatzpapier der Bewegung von 2005 verwiesen), welche eine antisemitische Auslegung strukturalisieren. Die Bewegung floriert so zu einem Sammelbecken antisemitischer Anhänger:innen aus verschiedenen politischen Spektren und schließt an eine lange Geschichte antisemitisch motivierter Boykotte und Aktionen seit der Staatsgründung an. Aus diesen Gründen hatten wir uns der 2019 verfassten Resolution des fzs bezüglich BDS angeschlossen, an der wir nach wie vor festhalten. Zur weiteren Vertiefung kann bspw. Kirsten Dierolfs Text zu der Thematik im Sammelband „Antisemitismus seit 9/11. Ereignisse, Debatten, Kontroversen“ (2019) oder das CARS Working Paper #005, „Die Israel-Boykott-bewegung BDS und die documenta fifteen“ (2022), herangezogen werden.
Wir möchten uns folglich von den, differierenden, Haltungen der Referentinnen zur BDS-Bewegung bzw. darin beteiligten Aktivist:innen, im Besonderen darüber hinaus von Roldán Mendívils Vergleichen Israels mit einem Kolonialstaat und Apartheidregime sowie den Bekundungen zur Intifada, abgrenzen und ihnen eine Reflektion ihrer Positionen hinsichtlich dessen Anschlussfähigkeit für Antisemitismus nahelegen. Dennoch glauben wir, dass ein konstruktiver Austausch (anstelle von autoritärem Ausschluss) möglich ist und halten deshalb an einer gemeinsamen Veranstaltung fest. Dabei sei betont, dass eine solche für uns nicht gleichbedeutend mit einer unhinterfragten Zustimmung zu allen Positionen der Referentinnen ist. Wir verstehen unsere Veranstaltungen stattdessen als Diskussionsraum, in dem auch in Widerspruch zueinander getreten werden darf und soll. Zudem möchten wir darauf hinweisen, dass weder die Vorträge beider Referentinnen, noch ihr Sammelband „Diversität der Ausbeutung“, auf den sich diese im Wesentlichen stützen, den Nahostkonflikt, bzw. die BDS-Bewegung behandeln, die problematisierten Positionen also nicht Gegenstand der Veranstaltungen sind. Sollten doch antisemitische Aussagen getätigt werden, sei es von Referent:innen oder Zuhörer:innen, gilt das gleiche wie bei allen Veranstaltungen des AStA : Diese werden nicht geduldet und entsprechend konsequent ist der Umgang unserer Moderator:innen.
Zuletzt sei noch einmal herausgestellt, dass die Referentinnen mit dem von ihnen herausgegebenen Sammelband einen wichtigen Beitrag im Diskurs um (materialistischen) Antirassismus geleistet haben, welcher ein kritisches Verständnis gegenwärtiger und historischer Rassismen ermöglicht und klassentheoretische Leerstellen in der gegenwärtigen Auseinandersetzung um die Thematik problematisiert und auffüllt. Ihre Analysen eröffnen Perspektiven, die gerade im Zuge einer zunehmenden Kulturalisierung sozialer Ungleichheiten eine besondere Relevanz besitzen. Das aus einer langjährigen Expertise resultierende analytische Handwerk schafft nicht nur für die Erforschung des Rassismus, sondern auch für die Untersuchung anderer Diskriminierungsformen eine fruchtbare Grundlage, weshalb wir eine Beschäftigung damit im Rahmen unserer Reihe für sinnvoll erachten. So plädieren wir im Rahmen der Veranstaltungen dazu, die Referentinnen an den notwendigen Stellen zu kritisieren, ihre Inhalte aber lieber kritisch weiterzudenken, anstatt sie gänzlich aus dem Diskurs zu verbannen.
Auch unabhängig dieses spezifischen Konflikts ist uns bewusst, dass Antizionismus, bzw. eine undifferenzierte und antisemitisch gefärbte Kritik am Staat Israel, kein seltenes Phänomen innerhalb der (materialistischen) Linken ist, weshalb wir eine intensivere Auseinandersetzung damit für notwendig erachten. Diese soll im Anschluss an die hiesigen Veranstaltungen erfolgen und in eine kurze, eigene Reihe münden, die, in Zusammenarbeit mit lokalen antisemitismuskritischen Strukturen, über Ausformungen, gesellschaftliche Hintergründe und Konsequenzen entsprechender Positionen aufklärt und sinnvolle Umgangsstrategien debattiert. Eine solche Beschäftigung halten wir besonders in Anbetracht dessen für unverzichtbar, dass antizionistische Positionen besonderes häufig in migrantisch geprägten und ökonomisch prekären Kontexten verbreitet sind. Eine eindimensionale Einstufung entsprechender Personen als „politische Feinde“ und ihr Ausschluss aus der Debatte würde auf anderen Ebene diskriminierende Dynamiken verschärfen und bedarf deshalb im Besonderen eines differenzierteren Umgangs.
Abschließend bedanken wir uns dafür, auf die problematischen Positionen der Referentinnen hingewiesen worden zu sein. Gleichzeitig sind wir enttäuscht über die unsolidarische Veräußerung dieser Kritik. Dies bezieht sich einerseits auf den dogmatischen Stil der Vorwürfe in Bezug auf die Referentinnen. Andererseits wurde nicht einmal der Versuch unternommen, mit dem AStA konstruktiv über die Problematik in Austausch zu treten, bzw. eine Rückmeldung auf die formulierte Kritik abzuwarten. Dies wundert uns besonders in Anbetracht dessen, dass die Reihe grundsätzlich unterstützt wird und die antisemitismuskritische Position des AStA bekannt ist. Dass nahezu unmittelbar nach Kontaktierung des AStA ein vorwurfsvolles Statement an unterschiedliche hannoversche Strukturen versendet wird, ist für uns kein Ausdruck einer begrüßenswerten Konfliktkultur.
Hier wünschen wir uns mehr Geduld und Ambiguitätstoleranz, wie wir sie erfreulicherweise im Austausch mit anderen linken Strukturen in den letzten Wochen erfahren haben. So sei zuletzt noch in Bezug auf den Vorwurf, die hannoversche Linke würde die Präsenz antisemitischer Referentinnen ignorieren, erwidert, dass ein Konflikt auch anders verlaufen kann als in Form öffentlicher Vorwürfe und Schuldzuweisungen. So hat die Fähigkeit dieser Strukturen, Widerspruch auszuhalten und produktiv auszutragen, öffentliche Schlammschlachten vermeiden können, was die Bedingung für eine fruchtbare Debatte ist, von der, in letzter Konsequenz, auch den Betroffenen diskriminierender Positionen am meisten geholfen ist.
Wir freuen uns auf eine konstruktive und spannende Veranstaltungsreihe mit Euch, in dessen Rahmen wir debattieren und kritisieren wollen – kommt vorbei!
Identifizierung, Identität, Nicht-Identisches: Psychoanalytische Überlegungen zum Identitätsdenken auf dem Feld der Sexual- und Geschlechterpolitik
Vortrag
01.06, 19Uhr, Elchkeller
Ankündigung: Der Vortrag wird unterschiedliche psychoanalytische Perspektiven auf den Begriff der Identität und verwandte Konzepte wie Identifizierung, Ich-Stärke oder Identitätsdiffusion vorstellen. Zentrale Bezugspunkte werden neben dem Werk Freuds – in dem der Identitätsbegriff (fast) gar nicht vorkommt – der Ich-psychologische Ansatz Erik Erikson, die allgemeine Verführungstheorie Jean Laplanches sowie jüngere Diskussionen über fragmentierte Identitäten in der Postmoderne sein. Vor diesem Hintergrund wird dann skizziert, wie sich identitäre Wünsche in die Politik übersetzen. Exemplarisch soll dies am Identitätsdenken auf dem Feld der Sexual- und Geschlechterpolitik veranschaulicht werden.
Aaron Lahl ist Psychologe, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der International Psychoanalytic University Berlin und Redakteur der psychoanalytischen Zeitschrift RISS. Er beschäftigt sich vor allem mit sexualwissenschaftlichen und geschlechtertheoretischen Fragen und arbeitet zu verschiedenen Themen in den Bereichen der theoretischen Psychoanalyse, der Geschichte der Psychoanalyse und der Kritischen Theorie.
Pride
Filmabend
04.06, 20 Uhr, Kino im Sprengel
1984 macht sich eine Gruppe aus der Londoner Schwulen- und Lesbenszene in das walisische Dorf Onllwyn auf, um die streikenden Bergarbeitenden zu unterstützen. Schließlich leiden die so unterschiedlichen Gruppen beide unter der restriktiven Politik der Thatcher-Regierung und den Übergriffen der Polizei. Die Hauptstädter wollen ihre praktische Solidarität mit den streikenden Minenarbeitern bekunden, werden zunächst jedoch nicht mit offenen Armen empfangen.
Ein Annäherungsprozess auf Basis der geteilten Erfahrung gesellschaftlichen Leids schafft schließlich eine solidarische und kämpferische Allianz.
In Kooperation mit dem Kino im Sprengel.